43. Akt
Mal wieder im Zug. Auf dem Weg zu einem Termin fällt mir auf, dass
Ferien begonnen haben müssen und stelle fest: Ja, es sind Osterferien in Bayern.
Der Zug ist rappelvoll und ich sitze in einem Abteil mit einem
älteren Paar und einer dreiköpfigen Familie. Der etwa neunjährige
Sohn gehört der Sorte Kind an, dem offensichtlich sein ganzes Leben
lang eingebläut wurde, dass er in jedem Moment ganz zauberhaft ist
und jeder sich zu aller Zeit über alles(!) was er tut freut. Ich mag
Kinder. Ich mag sie sogar so sehr, dass ich mir selber zwei von ihnen
angeschafft habe. Ich nenne sie gern Kind 1.0 und Kind 2.0, aber ich
rufe sie in der Regel bei ihrem Namen und ich würde für ihr
Wohlbefinden über Leichen gehen.
Dieser Junge hier – Dennis heißt er, wie ich schon nach dreißig
Sekunden erfahre – gehört zur Sorte „Mir gehört die Welt und
deine Sachen auch“.
Ich sitze zwischen dem alten Herrn und Dennis Mutter. Der Junge
beschimpft gerade seinen Vater, der offensichtlich vergessen hat, das
Aufladegerät für seinen iPad einzupacken. Es fallen Schimpfworte,
bei denen ich meinen Kindern vermutlich bis zur Rente das Taschengeld
gestrichen hätte. Das alte Paar schaut aus dem Fenster. Sie sprechen
kein Deutsch. Das habe ich schon mitbekommen. Ich frage mich, wo sie
wohl herkommen, aber da steht auch schon Dennis vor mir. „Hast du
Spiele auf deinem Handy?“
Ich bin etwas verblüfft. Mit neun Jahren haben die Kinder die
Verwendung von der Anrede „Sie“ eigentlich ganz gut im Griff.
Aber egal. Es ist ein Kind und ich bejahe die Frage. Dummerweise. Das
Handy in meiner Hand fühlt sich zunehmend warm an. „Kann ich mal?“
Ich verneine und sage, das ich das Telefon selber brauche und füge
noch hinzu, dass es für mich ein Arbeitsgerät ist. Ich lache.
„Die Dame gibt es dir bestimmt, wenn sie nicht mehr arbeiten muss,
Dennis.“ Jetzt lach ich nicht mehr. Hat die ein Rad ab? Seit wann
haben fremde Mütter Verfügungsgewalt über mein Equipment? Ich
erspare mir einen Kommentar und tippe gebannt auf meinem Telefon rum.
Dann reicht es mir irgendwann und ich packe es in meine Handtasche.
Prompt steht Dennis wieder vor mir. „Kann ich es jetzt dann mal
haben??“ Es ist weniger eine Frage, als eine konkrete Aufforderung.
Ich lächle ihn an und sage laut und deutlich „Nein!“ Einen
Moment habe ich das Gefühl, der Zug müsste auf der Stelle stehen
bleiben. „Nein“ ist offenbar eines der Worte, die Dennis in
seinem Leben viel zu wenig gehört hat. Abgesehen davon, dass ihm
auch die Verwendung der Worte „Bitte“ und „Danke“ vollständig
abgeht.
„Spinnst du? Du hast gesagt, dass ich es gleich haben kann!“ Dem
Jungen scheint gleich die Halsschlagader zu platzen. Er fasst nach
meiner Tasche und ich ziehe sie von ihm weg. Er dreht sich um und
schreit seine Mutter an. Ich denke nach. Wie kann man diesen Eltern
helfen? Dennis passt garantiert nicht mehr in die Babyklappe.
Eindeutig zu groß.
Dann spricht mich die Mutter an und fragt mich allen Ernstes, ob
Dennis jetzt mal kurz mit meinem Handy spielen darf.
Ich fass es nicht. Erneut verneine ich und ernte von beiden
Elternteilen böse Blicke. Bevor Dennis jetzt vollständig in die
Luft geht, fragt ihn die Mutter, ob er mal mit ihr nach ganz vorne
gehen mag. Da wo man manchmal den Zugführer sehen kann. Mir wird
flau. Ich hoffe, der Zugführer hat feste abgeschlossen. Dennis
streckt mir die Zunge raus und während Mutter und Sohn das Abteil
verlassen, höre ich sie noch sagen: „Die Frau mag bestimmt keine
Kinder, die ist doof.“ Dennis lacht und ich würde beide am
liebsten bei voller Fahrt Kontakt mit dem Gleisbett schließen
lassen. Der Vater bleibt stumm sitzen und tut so, als ob er in einem
Buch liest. „Angewandte Psychologie“. Ich würde es ihm am
liebsten rektal einführen, damit er weiß, was sie da
erziehungstechnisch murksen. In Innsbruck steigt die Familie dann
endlich aus. Ich schließe die Augen, atme ein und atme aus. Die alte
Dame gegenüber beginnt zu kichern. Dann spricht sie mich an. Auf
Bayerisch. „Ihr Gemüt hätte ich gerne. Der Junge war ja ein
Ausbund an schlechter Erziehung.“ Von links spricht der ältere
Herr. „Ich habe mir überlegt, wer von den Dreien am meisten eine
Watschn verdient hätte. Letztendlich hätte ich mich für die Mutter
entschieden.“ Mir bleibt die Spucke weg. Die beiden haben die ganze
Zeit so getan, als ob sie kein Deutsch sprächen. Nur damit sie von
dem kleinen Familienrudel verschont bleiben. Wie geschickt ist das
denn?? Als der Service kommt, lade ich die beiden zu einem Glas Wein
ein. Ab jetzt wird die Fahrt deutlich entspannter. Und beim nächsten
mal mach ich es ganz genau so. „Sorry, nix verstehn.“
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