Dienstag, 4. Oktober 2016

240. Akt 

Nein, du hier? Wir haben uns ja schon ewig nicht gesehen. Warst du schon immer so groß?“
(Oh mein Gott. Wie heißt sie noch? Wie heißt sie noch? Zu dem Gesicht, will mir so gar keine Erkenntnis ins Hirn kommen. Ich erwidere dennoch die Begrüßung mit einem Küsschen rechts und links.)
Äh ja. Stimmt. Schon lange nicht gesehen. Ja, hab kurz vor 1,80m aufgehört zu wachsen. Schon vor vielen Jahren. Wie geht es dir?“
(Was für ein brillanter Konter meinerseits. Das schafft Zeit und Raum, um diese Person irgendwo aus meiner Erinnerung wieder auszukramen. Knapp 1,70 m groß, ca. vierzig Jahre alt. Nicht unsympathisch. Ein bisschen untersetzt, aber sicher nicht unförmig.)
Na ja. Die Kinder werden groß und die Männer hauen ab. Ich bin wieder alleine. Aber es ist in Ordnung. Mir geht es gut.“
(Ups... das tut mir leid. Klingt nicht nach Erfüllung aller Lebensplanung. Es hilft mir aber bei der Identitätsfindung der mir gegenüber stehenden Frau nicht weiter. Mein Hirn rattert und sucht, aber es findet sich einfach nichts. Juvenile Demenz? Keine Ahnung.)
Wenn es dir gut geht, dann geht es dir ja zumindest nicht schlecht.“
(So liebe Manu. Hiermit überreiche ich dir den Preis für die dämlichste Floskel jenseits des Millenniums. Wenn es dir gut geht, dann geht es dir wenigstens nicht schlecht. Hab ich das wirklich gesagt? Kann mich mal bitte kurz jemand verhauen, für diese Aussage???)
Mein Gegenüber nickt und schaut mich mit etwas schräg gestelltem Kopf an. Genau so schaue ich auch immer, wenn mich jemand mit irgendwelchem Schwachsinn verblüfft.
Was machen deine Kinder?“ Sie steht vor mir. Ihre Körperhaltung zeigt an, dass sie es eigentlich eilig hat und nur kurz mit mir reden kann. Das trifft sich gut. Bei Menschen, die ich überhaupt nicht wiedererkenne, entwickeln sich längere Gespräche in der Regel eher peinlich. Das habe ich ja gerade schon bewiesen. Aber die Frage nach den Kindern ist kein Hexenwerk. Ich antworte wahrheitsgemäß.
Tja, der Große studiert im dritten Semester und die Kleine macht im nächsten Jahr Abi.“
Hä? Ich dachte, du hättest zwei Mädchen?“
Nee, nee, nee. Da bin ich mir ganz sicher. Schon im Kreißsaal haben sie mir gesagt: Das hier ist ein Junge. Und drei Jahre später: Das hier ist ein Mädel. Und die müssen das wissen. Die machen das täglich.
Nein. Einen Sohn und eine Tochter hab ich. Und sonst so?“
(Ja, ja. Ich hab den Bogen raus, wenn es ums Zeit schinden geht.)
Passt schon. Ich muss dann mal weiter.“
Uff, ein Ende des Gespräches steht mir bevor. Das ist gut. Mir fällt immer noch kein Name zu der Dame ein.
Also mach es gut, Carla. Und bis ganz bald mal wieder.“ Sie küsste mich wieder rechts und links. Dann winkt sie kurz und zischt ab.
Carla?? Hallo? Ich heiße Manuela. Und dann wird mir auch klar, warum mir kein Name zum Gesicht einfällt. Ganz einfach, weil wir uns noch gar nicht vorher begegnet sind. Sie hat mich schlichtweg verwechselt. Innerlich entspanne ich ein bisschen. Wenn die Lady nun jemanden erzählt, dass sie einer eigenartigen Frau mit eigenartigen Floskeln begegnet ist, dann heißt die Hauptprotagonistin nämlich Carla. Sehr gut. Damit kann ich das Reich der peinlichen Situationen nämlich leise und unauffällig wieder verlassen.
"Wenn es dir gut geht, dann geht es dir zumindest nicht schlecht." Ich fasse es nicht. Manchmal sollte ich einfach die Klappe halten. Oder eben gestehen, dass mich mein Erinnerungsvermögen ein bisschen hängen lässt. Ist ja auch menschlich. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen