Sonntag, 12. Juni 2016

126. Akt

Es gibt Dinge, die klingen leicht, sind aber schwer. Und manches ist schlichtweg unmöglich.
Es ist früh am morgen, und ich liege im Bett und überlege mir, ob es eigentlich umsetzbar ist, einen Tag lang nicht zu schwindeln. Also ich meine so ganz und gar ausschließlich die Wahrheit zu sagen. Quasi so wie in dem Film mit Eddie Murphy. Lügen hasse ich ohnehin wie die Pest, aber was, wenn man den ganzen Kram, der das geschmeidige Funktionieren einer Kommunikation gewährleistet, auch noch zu unterlässt?
Kein Problem, denke ich mir. 24 Stunden. Krieg ich hin. Dann stehe ich auf und gehe ins Bad. Eventuelle Mantras wie „Du bist gut drauf“ oder „Was biste schön, wenn du aus dem Bett kommst“, sind kein Problem. Da ich sowas in solchen Situationen ohnehin nicht sage, muss ich nicht gleich mit meinem neuen Vorsatz brechen.
Beim Frühstückrichten esse ich die Kekse auf, die auf dem Tisch stehen. Müssen bestimmt sowieso weg.
Dann fahre ich den Rechner hoch. Emails, deren wahrheitsgemäße Beantwortung mich Kopf und Kragen kosten könnten, schiebe ich auf die To-Do-Liste für morgen.
So lange keiner in meiner Nähe ist, habe ich keine Schwierigkeiten. Aber eine Stunde später geht es schon los.
Mit einem „Guten Morgen.“ an meine Tochter, mache ich ja noch nix verkehrt.
„Guten Morgen, Mama.“ Der Blick gleitet über den Tisch. „Wo sind denn meine Kekse?“
Oha... ich wusste nicht, dass das Gebäck hier gestern personalisiert wurde. Tja, kommt vor. „Die hat, glaub ich dein Bru.... ähem... ich hatte Hunger.“
Ihr Blick wird den ganzen Tag mein mieses Gewissen nähren.
„Kannst Du mich für Sport befreien? Wir sagen einfach, ich bin erkältet.“
„Äh... tja... eigentlich nicht.“
Ich erkläre meinem Kind mein Problem. Sie lacht. „Keine Sorge, reicht völlig, wenn ich die Entschuldigung morgen bringe.“
Mein Tochterkind denkt pragmatisch-praktisch. Ich liebe sie. Die Scharte mit den Keksen ist somit ausgewetzt. Sehr gut.
Als der Postbote klingelt und meint, dass das Wetter heute schon besser ist als gestern. Schaue ich nach oben. Es nieselt. Zählt Ironie auch zur Lüge? Ich beschließe, nicht zu nicken und wünsche ihm allzeit gute Fahrt. Das ist okay, denke ich.
Mein Literaturagent ruft an. Auf einmal fühle ich mich welk. Sollte ich heute mit einem erweiterten Manuskript ums Eck kommen? Ja! Habe ich das Material fertig? Nein! Kann ich irgendwas sagen, was mich rettet? Äh...nö. Nicht ohne zu schwindeln. Ich stehe vor dem Telefon und denke nach. Dann hört es auf zu klingeln. Okay. Fürs Erste bin ich aus der Bredouille.
Die nächste Stufe wird dann mit Erscheinen meines Sohnes gezündet.
Nach wenigen Minuten Gespräch schaut er mich eigenartig an. Es ist gar nicht so, dass ihn der Inhalt meiner Worte irritiert, vielmehr ist es meine bedächtige Sprechweise. Ich erkläre ihm, was ich mir vorgenommen habe. Er grinst und fragt, ob mir langweilig ist, oder ob ich in Diskussionsstimmung bin. Ich sage nix. Er kichert und wünscht mir noch viel Erfolg.
Es klingelt erneut. Meine Mutter ruft an. Ans Telefon zu gehen bedeutet den absoluten Härtetest. Ich rede langsam und deutlich, so dass mir nicht versehentlich etwas Unwahres raus rutscht. Nach zwei Minuten fragt sie mich, ob ich Alkohol getrunken habe. Ich überlege einen Moment und antworte dann wahrheitsgemäß und erleichtert mit einem „Nein!“ Als ich nachschieben will, dass ich nie vor 16 Uhr trinke, bleibt mir der halbe Satz im Halse stecken. Dann erkläre ich auch ihr, was ich gerade ausprobiere.
Sie lacht. Dann sagt sie: „Vergiss es. Ohne minimale Höflichkeits-Schwindeleien wirst du spätestens in zwei Stunden gesteinigt. Es geht ja schon mit einem „Guten Tag!“ los, wenn du jemandem lieber den schwärzesten Tag seines Lebens wünschen würdest.“
Und irgendwas sagt mir, dass sie recht hat. Ich möchte niemandem einen miesen Tag wünschen, aber trotzdem fühlt es sich ein bisschen aussichtslos an. In einer Stunde habe ich ein Gespräch bei der Bank. Und am Nachmittag habe ich einen Termin beim Anwalt. Die Aussichten ohne die ein oder andere Schönfärberei durchzukommen, gehen gegen Null.
Ich tu es nicht gerne, aber ich gebe auf.
Als kurz danach der BoFrost Mann klingelt, lächle ich ihn an.
„Ich kann heute leider nichts kaufen. Alle Tiefkühlfächer sind gerappelt voll.“
Ich schließe die Tür. Manchmal ist es einfach besser eine Ausrede zu verwenden. Egal ob BoFrost-Mann, Bänker oder Anwalt.


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