86. Akt
Vor einiger Zeit wollte ich in einer Gruppe älterer Menschen für
ein bisschen Abwechslung sorgen. Und nein, das bedeutet nicht, dass
man Rollatoren versteckt oder die Räder eines Rollstuhls einfettet.
Auch der Austausch von Gebisskleber in eine Tube Uhu ist hier nicht
gemeint.
Ich bringe gerne etwas Farbe unter die Menschen und das nehme ich
ziemlich persönlich.
Ich wurde gebeten ein bisschen vorzulesen. Und das tat ich gerne.
Mir war von Anfang an klar, dass meine eigenen Bücher zu diesem
Zwecke völlig ungeeignet waren. Menschen, die zum Teil noch den
Krieg miterlebt haben, die schrecken „33 Grausamkeiten“ nicht, oder sie können nicht drüber lachen. Also überlege ich, aus
welchem Buch ich vorlesen mag, und komme – klar, beste Lösung –
zu einem Märchenbuch der Gebrüder Grimm.
In unserer netten kleinen Leserunde beginne ich mit Hänsel und
Gretel.
Und... nun ja... ist euch schon mal aufgefallen, wie Frauen im
Rentenalter im Märchen aussehen?
Es sind immer alte Frauen mit warziger Hakennase und bösem Blick.
Unter den Lesungsgästen findet sich niemand, auf den diese
Beschreibung auf Anhieb zutrifft, aber ein bisschen unangenehm ist es
mir trotzdem. Beim nächsten Märchen geht es weiter, denn auch
Rapunzel hat unter einer alten boshaften, hässlichen Frau zu leiden.
Ich schwitze ein bisschen und glaube, wenn ich auf der anderen Seite
des Buches säße, dann würde ich es ein bisschen persönlich
nehmen. Alles in allem stelle ich fest, dass Märchen ausgesprochen
diskriminierend sind, was alte Frauen, Wölfe und Zwerge angeht. Und
außerordentlich brutal sind sie auch. Kannibalische Omas werden in
Öfen gratiniert, rauben Kinder und würden auch noch brandschatzend
durchs Land ziehen, wenn sie könnten.
Es ist fast beruhigend für mich, dass die Schwerhörigkeit so
manchen meiner Gäste vor den ungewollten Beleidigungen bewahrt.
Kaum bin ich auf dem Heimweg, denke ich darüber nach, mal ein
zeitgemäßes Märchen zu schreiben.
Die Oma ist dann die schärfste Ü-Siebzigerin, die man sich
vorstellen kann. Sie kommt mit der Harley vom Boxtraining und klärt
Schneewittchen auf, wie sie mit ihrer Zwergen WG so richtig Spaß
haben kann. Den Prinzen hinter dem Glassarg weist sie darauf hin,
dass der Jäger sehr schöne blaue Augen hat und er sich mal überlegen
soll, warum Schneewittchen ihn nicht wirklich anmacht.
Ja, genau. Bei mir gäbe es schwule Prinzen, selbständige
Prinzessinnen, Könige, die nicht notgeil auf die nächste böse
Schwiegermutter hereinfallen und emanzipierte Zwerge. Die
Immobilienpreise hinter den sieben Bergen sind auch noch
erschwinglich, so dass man seine Jungfräulichkeit nicht gleich an
den nächsten willigen nicht schwulen Prinzen verschleudern muss, um
sich ein Schloss leisten zu können. Das Leben wäre für Hänsel,
Gretel, Rapunzel und den Rest der ganzen Bagage einfach märchenhaft.
Keine vergifteten Äpfel und der Wolf wäre Veganer.
Und wenn ich hier fertig bin, dann kümmere ich mich um Barbie und
Ken.
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