Montag, 2. Mai 2016

86. Akt

Vor einiger Zeit wollte ich in einer Gruppe älterer Menschen für ein bisschen Abwechslung sorgen. Und nein, das bedeutet nicht, dass man Rollatoren versteckt oder die Räder eines Rollstuhls einfettet. Auch der Austausch von Gebisskleber in eine Tube Uhu ist hier nicht gemeint.
Ich bringe gerne etwas Farbe unter die Menschen und das nehme ich ziemlich persönlich.
Ich wurde gebeten ein bisschen vorzulesen. Und das tat ich gerne.
Mir war von Anfang an klar, dass meine eigenen Bücher zu diesem Zwecke völlig ungeeignet waren. Menschen, die zum Teil noch den Krieg miterlebt haben, die schrecken „33 Grausamkeiten“ nicht, oder sie können nicht drüber lachen. Also überlege ich, aus welchem Buch ich vorlesen mag, und komme – klar, beste Lösung – zu einem Märchenbuch der Gebrüder Grimm.
In unserer netten kleinen Leserunde beginne ich mit Hänsel und Gretel.
Und... nun ja... ist euch schon mal aufgefallen, wie Frauen im Rentenalter im Märchen aussehen?
Es sind immer alte Frauen mit warziger Hakennase und bösem Blick.
Unter den Lesungsgästen findet sich niemand, auf den diese Beschreibung auf Anhieb zutrifft, aber ein bisschen unangenehm ist es mir trotzdem. Beim nächsten Märchen geht es weiter, denn auch Rapunzel hat unter einer alten boshaften, hässlichen Frau zu leiden. Ich schwitze ein bisschen und glaube, wenn ich auf der anderen Seite des Buches säße, dann würde ich es ein bisschen persönlich nehmen. Alles in allem stelle ich fest, dass Märchen ausgesprochen diskriminierend sind, was alte Frauen, Wölfe und Zwerge angeht. Und außerordentlich brutal sind sie auch. Kannibalische Omas werden in Öfen gratiniert, rauben Kinder und würden auch noch brandschatzend durchs Land ziehen, wenn sie könnten.
Es ist fast beruhigend für mich, dass die Schwerhörigkeit so manchen meiner Gäste vor den ungewollten Beleidigungen bewahrt.
Kaum bin ich auf dem Heimweg, denke ich darüber nach, mal ein zeitgemäßes Märchen zu schreiben.
Die Oma ist dann die schärfste Ü-Siebzigerin, die man sich vorstellen kann. Sie kommt mit der Harley vom Boxtraining und klärt Schneewittchen auf, wie sie mit ihrer Zwergen WG so richtig Spaß haben kann. Den Prinzen hinter dem Glassarg weist sie darauf hin, dass der Jäger sehr schöne blaue Augen hat und er sich mal überlegen soll, warum Schneewittchen ihn nicht wirklich anmacht.
Ja, genau. Bei mir gäbe es schwule Prinzen, selbständige Prinzessinnen, Könige, die nicht notgeil auf die nächste böse Schwiegermutter hereinfallen und emanzipierte Zwerge. Die Immobilienpreise hinter den sieben Bergen sind auch noch erschwinglich, so dass man seine Jungfräulichkeit nicht gleich an den nächsten willigen nicht schwulen Prinzen verschleudern muss, um sich ein Schloss leisten zu können. Das Leben wäre für Hänsel, Gretel, Rapunzel und den Rest der ganzen Bagage einfach märchenhaft. Keine vergifteten Äpfel und der Wolf wäre Veganer.
Und wenn ich hier fertig bin, dann kümmere ich mich um Barbie und Ken.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen