Mittwoch, 27. April 2016

81. Akt

Wenn ich für meine Bücher Menschen studieren muss, dann setze ich mich gerne in Cafés oder fahre mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Dort hast du Menschen aller Altersklassen und in allen „Aggregatszuständen“.
Frisch verliebt und gut drauf, mittelmäßig Standard und verdammt uncool und mies gelaunt. Und wenn mal niemand zum studieren dabei ist, dann schaut man sich halt die Landschaft an.
Auf der Suche nach einem interessanten Charakter steige ich also wieder mal in die Linie 263.
Und weil dieser Bus recht unergiebig scheint, steige ich wenig später in eine andere Linie. Der Bus ist voll. Ich schaue mich um und überlege, wen ich gerne ein bisschen beobachten möchte, als plötzlich ein Junge aufsteht und mir seinen Sitz frei macht. Er ist vielleicht neun Jahre alt, dunkelblond und sommersprossig. Eigentlich ganz niedlich.
Ich bin erschüttert. Zum einen, weil ich es kolossal nett finde, dass er so höflich ist, zum anderen, weil mir der alte Satz einfällt. „Älteren Menschen und Schwangeren hat man in Bus und Bahn seinen Platz anzubieten.“
Älteren Menschen. Ich fasse mir kurz an den Kopf.
Oha, vielleicht muss ich mir mal wieder den Ansatz nachfärben.
Oder beult sich meine Jacke irgendwie ungewöhnlich? Wirke ich trächtig?
Ich sehe heute doch nicht gebrechlicher aus als an allen anderen Tagen? Der Junge bleibt stehen und lächelt mich an. Ich will ihn jetzt nicht fragen, ob er mich fertig machen will und überlege, ob ich ihm das mit „älter“ noch mal erklären muss. Vielleicht kann ich ja auch kurz zwei Minuten an der Haltestange tanzen, damit er sieht, wie wendig ich noch bin.
Mir wird also ein Sitz im Bus angeboten. Völlig unschwanger und absolut zu jung für solche guten Taten. Normalerweise biete ich doch den wirklich älteren Herrschaften freundlich meinen Sitz an.
Ich setze mich hin. Super gemacht, junger Mann! Täglich eine gute Tat. Und Zack! Ist mein Ego für zwei Stunden in den Keller gewandert.
Aber dann löst sich der Fall. Der Junge geht zur Tür. Er muss lediglich aussteigen. Der Platz wurde also ganz banal einfach nur so frei.  Braves Kind. Und wenn demnächst eine Omi einsteigt, stehst du dann wirklich für die Dame auf. Auch wenn du nicht aussteigen musst. An der nächsten Haltestelle verlasse ich den Bus. Dort gibt es eine Drogerie. Ich hole mir für alle Fälle trotzdem mal ein Ansatz-Färbe-Set. Man weiß ja nie.

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