81. Akt
Wenn ich für meine Bücher Menschen studieren muss, dann setze ich
mich gerne in Cafés oder fahre mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln. Dort hast du Menschen aller Altersklassen und in
allen „Aggregatszuständen“.
Frisch verliebt und gut drauf, mittelmäßig Standard und verdammt
uncool und mies gelaunt. Und wenn mal niemand zum studieren dabei
ist, dann schaut man sich halt die Landschaft an.
Auf der Suche nach einem interessanten Charakter steige ich also
wieder mal in die Linie 263.
Und weil dieser Bus recht unergiebig scheint, steige ich wenig später
in eine andere Linie. Der Bus ist voll. Ich schaue mich um und
überlege, wen ich gerne ein bisschen beobachten möchte, als
plötzlich ein Junge aufsteht und mir seinen Sitz frei macht. Er ist
vielleicht neun Jahre alt, dunkelblond und sommersprossig. Eigentlich
ganz niedlich.
Ich bin erschüttert. Zum einen, weil ich es kolossal nett finde,
dass er so höflich ist, zum anderen, weil mir der alte Satz
einfällt. „Älteren Menschen und Schwangeren hat man in Bus und
Bahn seinen Platz anzubieten.“
Älteren Menschen. Ich fasse mir kurz an den Kopf.
Oha, vielleicht muss ich mir mal wieder den Ansatz nachfärben.
Oder beult sich meine Jacke irgendwie ungewöhnlich? Wirke ich
trächtig?
Ich sehe heute doch nicht gebrechlicher aus als an allen anderen
Tagen? Der Junge bleibt stehen und lächelt mich an. Ich will ihn
jetzt nicht fragen, ob er mich fertig machen will und überlege, ob
ich ihm das mit „älter“ noch mal erklären muss. Vielleicht
kann ich ja auch kurz zwei Minuten an der Haltestange tanzen, damit
er sieht, wie wendig ich noch bin.
Mir wird also ein Sitz im Bus angeboten. Völlig unschwanger und
absolut zu jung für solche guten Taten. Normalerweise biete ich doch
den wirklich älteren Herrschaften freundlich meinen Sitz an.
Ich setze mich hin. Super gemacht, junger Mann! Täglich eine gute
Tat. Und Zack! Ist mein Ego für zwei Stunden in den Keller
gewandert.
Aber dann löst sich der Fall. Der Junge geht zur Tür. Er muss
lediglich aussteigen. Der Platz wurde also ganz banal einfach nur so
frei. Braves Kind. Und wenn demnächst eine Omi einsteigt, stehst du dann
wirklich für die Dame auf. Auch wenn du nicht aussteigen musst. An
der nächsten Haltestelle verlasse ich den Bus. Dort gibt es eine
Drogerie. Ich hole mir für alle Fälle trotzdem mal ein
Ansatz-Färbe-Set. Man weiß ja nie.
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