Dienstag, 15. November 2016

282. Akt

Okay... die Hoffnung war groß, aber nun hat sie sich erneut verabschiedet. Meine Stimme. Zumindest alles, was sich im normalen Bereich abspielt. Wenn ich rede, dann klingt es – wenn man überhaupt etwas hört - wie ein Chorknabe mit viel zu engen Hosen und wie Jango, der knallharte Cowboy. Sopran und Bass, aber gleichzeitig. Und trotzdem Mono-Sound.
Als ich um 6 Uhr aufstehe, merke ich es selber noch gar nicht. Ich halte selten Selbstgespräche vor dem ersten Kaffee. Als ich allerdings um 6.30 Uhr meine Tochter wecken will, kommt kein fröhliches „Guten Morgen. Aufstehen. Schule.“ meinerseits. Sondern bloß etwas das klingt, wie eine Waschmaschine mit ausgehängter Trommel. Eine sehr alte Waschmaschine. Ich krächze und versuche noch deutlicher und lauter zu sprechen, aber das einzige Ergebnis ist ein mitleidiger Blick meiner Tochter. Sie schaut von ihrer Schlaf-Galerie herab und schüttelt mit dem Kopf.
Das klingt nicht gut. Leg dich besser wieder hin.“
Tja, leichter gesagt als getan. Ich muss los. Brötchen holen und einkaufen. Hoffentlich begegne ich keinem, denke ich. Leider vergeblich. Ich begegne allen, denen ich um diese Zeit begegnen kann. Bei den meisten reicht ein freundliches Nicken und ein angedeutetes „Guten Morgen“. So kann ich mich ohne eigenartige Blicke und mitleidige Lachanfälle durchlavieren. Schwierig wird es nur, wenn mich jemand direkt anspricht. In der Regel erfolgt immer eine Nachfrage und dann der Satz: „Klingt nicht gut. Erkältet?“
Was soll ich darauf sagen? „Ich arbeite an einer versoffenen Version von Bonnie Tyler.“? Glaubt mir doch eh keiner.
Im Tengelmann treffe ich eine ehemalige Nachbarin. Sie nutzt die Chance und quasselt mir ein Ohr ab. Ich bin hilflos. Kann ja nicht antworten. Zumindest nicht so, dass man es hört oder gar versteht. Irgendwann brumme ich nur irgendwas, lächle und wende mich ab. Mann, bin ich froh, als ich wieder Zuhause bin.
Mein Sohn meint, dass ich den Tag über nicht weiter reden soll. Es würde meiner Stimme überhaupt nicht guttun, wenn ich weiterhin Menschen mit meinen Geräuschen belustige. Als er hört, dass ich am Nachmittag in die Stadt muss, lacht er sich schlapp. Nicht weil ich das vorhabe, sondern weil ich dort zu einer Besprechung hin will. Bei dem Wort fällt er vor Lachen aufs Sofa.
Besprechung???“ Er rollt zwischen den Kissen. „Was willst du denn sagen? Und vor allem wie? Gebärdensprache? Wirfst du ihm Zettel zu?“ Kichernd verzieht er sich in sein Zimmer.
Ich habe vor einen befreundeten Fotografen zu treffen. Ich halte viel von ihm und seiner Arbeit. Wir wollen gemeinsame Projekte besprechen. Aber das könnte in der Tat schwierig werden.
Einen Moment überlege ich, ob ich nicht tatsächlich den kleinen Block mit den bunten Zetteln mitnehmen soll.
Was, wenn er mich nicht versteht und wir von vollständig unterschiedlichen Projekten reden? Ich befürchte, dass ich absagen muss.
Von weitem sehe ich den DHL Wagen nahen. Ich bin froh, dass er vorbei fährt. Wenn heute der falsche Bote an der Tür kommt, dann hätte er erstmals gute Karten. Auf seinen Schwachsinn nicht laut und deutlich antworten zu können, würde mir schon fast physisch wehtun.
Ich nehme eine weitere Tablette, die mir helfen soll, meine Stimme recht zeitnah zurückzuerhalten. Aber es hilft einfach nix. Keine Tabletten, kein Ingwer, keine leises Summen. Ich kann nicht sprechen.

Ich sag meinem Freund und Kollegen für den Nachmittag ab. Es hat keinen Sinn. Heute gibt es keine Gespräche oder gar Telefonate. Nur freundliches Grinsen, Nicken oder Kopfschütteln. Und dann koche ich mir noch einen Tee mit Honig.  

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