Sonntag, 13. November 2016

280. Akt

Super, das Krächzen aus meiner Stimme ist gestern Mittag endlich verschwunden. Blöd nur, dass es meine Stimme gleich mitgenommen hat. Normalerweise nicht weiter schlimm, in dem Fall allerdings schon ein bisschen doof. Eine Lesung steht nämlich ins Haus. Seit heute Morgen geht es ein bisschen besser. Also stimmlich zumindest. Dass sich die Körpertemperatur nicht an die üblichen siebenunddreißig Grad hält, ist mir wurscht. Aber mein Kreislauf nervt. Läuft noch nicht ganz rund. Auch nicht gut. Theoretisch könnte ich ja ins Bett gehen, allerdings trifft die heutige Lesung auf unser traditionelles jährliche Familienfest. Das heißt, unten in Wohnzimmer, Küche und Esszimmer tummeln sich meine Mutter, meine Schwestern, mein Bruder mitsamt ihrer Kinder und mittlerweile auch schon Enkel. Ganz schöner Betrieb. Ich liebe es und wünsche mir, dass ich irgendwie recht fix ein bisschen fitter werde.
Meine Nichte versorgt mich laufend mit irgendwelchen Vitaminpräparaten. Sie ist Ökotrophologin, sie kennt sich aus. Außerdem ist sie eben meine Nichte, also verlass ich mich einfach auf sie.
Ganz falsch scheint es auch nicht zu sein. Eine Stunde bevor ich zur Lesung gehe, merke ich, dass sich Körpertemperatur und Kreislauf für ein Weilchen auf eine Normalfunktion geeinigt haben. Für den Notfall habe ich auch schon einen Lösungsansatz gefunden. Für den Fall nämlich, dass ich unerwarteter Weise krankheitsbedingt die Hufe hochschlage, reiche ich das Buch an meinen Autorenkollegen Ulli Radermacher weiter. Er ist auch im Publikum. Dadurch, dass er selber auch Lesungen veranstaltet, würde er es problemlos hinkriegen, während ich im Nebenraum wieder auf die Beine komme. Er wird nicht so gut in mein rotes Kostümchen passen wie ich, aber was soll´s. In erster Linie geht es ja um das Buch.
Im Café des Pflegeheims ist für sechzig Personen bestuhlt. Und schnell stellen wir fest, dass wir gut vierzig weitere Stühle benötigen. Der Hausmeister bleibt ruhig. Er baut seitlich und nach vorne hin an, so dass alle Gäste einen Platz finden. Mein Neffe Marc hat die Versorgung mit den Getränken im Griff. Zwischendurch lässt er mal nachfragen, ob es okay ist, dass sich eine der Patientinnen schon das fünfte Glas Gratis-Prosecco abholt. Ich finde es okay. Wenn sie Spaß hat, dann freut es mich. Sie nimmt ja schließlich keine Kiste Sekt auf ihrem Rollator mit in ihr Zimmer. Tochterkind macht mit ihrem besten Freund Philipp den Bücherverkauf. Und jeder, der sie schon mal kennengelernt hat, begrüßt meine Mutter mit einem herzlichen „Hallo Mutti“. Selbst sie hat schon einen eigenen Fanclub und Tochterkind meint, sie bräuchte bald eine eigene Fan-Seite bei Facebook. Alles läuft prima. Mit unserem Kampfschrei „Auf die Familie“ sind alle anwesenden Gäste vorgewarnt, dass ich heute mit großer Besetzung anrücke.
Beim Blick ins Publikum bin ich ziemlich stolz. Meine Freundinnen aus der Stadt sind da. Meine liebsten Pflegerinnen aus dem Seniorenheim ebenfalls. Wie erwähnt, meine Familie und viele Menschen, die mir im Laufe der Zeit sehr ans Herz gewachsen sind.

Ein Prosecco noch und dann geht’s los. „33 Grausamkeiten II“ - Noch schnell die Brille auf und neunzig Minuten Spaß. Ich liebe meinen Job.  

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