280. Akt
Super,
das Krächzen aus meiner Stimme ist gestern Mittag endlich
verschwunden. Blöd nur, dass es meine Stimme gleich mitgenommen hat.
Normalerweise nicht weiter schlimm, in dem Fall allerdings schon ein
bisschen doof. Eine Lesung steht nämlich ins Haus. Seit heute Morgen
geht es ein bisschen besser. Also stimmlich zumindest. Dass sich die
Körpertemperatur nicht an die üblichen siebenunddreißig Grad hält,
ist mir wurscht. Aber mein Kreislauf nervt. Läuft noch nicht ganz
rund. Auch nicht gut. Theoretisch könnte ich ja ins Bett gehen,
allerdings trifft die heutige Lesung auf unser traditionelles
jährliche Familienfest. Das heißt, unten in Wohnzimmer, Küche und
Esszimmer tummeln sich meine Mutter, meine Schwestern, mein Bruder
mitsamt ihrer Kinder und mittlerweile auch schon Enkel. Ganz schöner
Betrieb. Ich liebe es und wünsche mir, dass ich irgendwie recht fix
ein bisschen fitter werde.
Meine
Nichte versorgt mich laufend mit irgendwelchen Vitaminpräparaten.
Sie ist Ökotrophologin, sie kennt sich aus. Außerdem ist sie eben
meine Nichte, also verlass ich mich einfach auf sie.
Ganz
falsch scheint es auch nicht zu sein. Eine Stunde bevor ich zur
Lesung gehe, merke ich, dass sich Körpertemperatur und Kreislauf für
ein Weilchen auf eine Normalfunktion geeinigt haben. Für den Notfall
habe ich auch schon einen Lösungsansatz gefunden. Für den Fall
nämlich, dass ich unerwarteter Weise krankheitsbedingt die Hufe
hochschlage, reiche ich das Buch an meinen Autorenkollegen Ulli
Radermacher weiter. Er ist auch im Publikum. Dadurch, dass er selber
auch Lesungen veranstaltet, würde er es problemlos hinkriegen,
während ich im Nebenraum wieder auf die Beine komme. Er wird nicht
so gut in mein rotes Kostümchen passen wie ich, aber was soll´s. In
erster Linie geht es ja um das Buch.
Im
Café des Pflegeheims ist für sechzig Personen bestuhlt. Und schnell
stellen wir fest, dass wir gut vierzig weitere Stühle benötigen.
Der Hausmeister bleibt ruhig. Er baut seitlich und nach vorne hin an,
so dass alle Gäste einen Platz finden. Mein Neffe Marc hat die
Versorgung mit den Getränken im Griff. Zwischendurch lässt er mal
nachfragen, ob es okay ist, dass sich eine der Patientinnen schon das
fünfte Glas Gratis-Prosecco abholt. Ich finde es okay. Wenn sie Spaß
hat, dann freut es mich. Sie nimmt ja schließlich keine Kiste Sekt
auf ihrem Rollator mit in ihr Zimmer. Tochterkind macht mit ihrem
besten Freund Philipp den Bücherverkauf. Und jeder, der sie schon
mal kennengelernt hat, begrüßt meine Mutter mit einem herzlichen
„Hallo Mutti“. Selbst sie hat schon einen eigenen Fanclub und
Tochterkind meint, sie bräuchte bald eine eigene Fan-Seite bei Facebook. Alles
läuft prima. Mit unserem Kampfschrei „Auf die Familie“ sind alle
anwesenden Gäste vorgewarnt, dass ich heute mit großer Besetzung
anrücke.
Beim
Blick ins Publikum bin ich ziemlich stolz. Meine Freundinnen aus der
Stadt sind da. Meine liebsten Pflegerinnen aus dem Seniorenheim
ebenfalls. Wie erwähnt, meine Familie und viele Menschen, die mir im
Laufe der Zeit sehr ans Herz gewachsen sind.
Ein
Prosecco noch und dann geht’s los. „33 Grausamkeiten II“ - Noch
schnell die Brille auf und neunzig Minuten Spaß. Ich liebe meinen
Job.
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