Freitag, 2. Dezember 2016

298. Akt

Ich besuche eine wahrhaft alte Freundin bei uns im Pflegeheim und begegne auf dem Weg Frau A.
Eine alte Dame. Eigentlich. Aber genau genommen eines der schärfsten Geschosse, die ich kenne. 94 Jahre alt und trotz der vielen Jahre immer noch geschmeidig unterwegs. Rollkragenpullover zur Schiebermütze. Cordrock zu ellbogenlangen Handschuhen. Jeden Tag läuft sie ihre Runden und wenn man sie auf ihre tolle Erscheinung anspricht, dann sagt sie, dass sie noch viel Zeit hätte zum alt werden. Und bis dahin bleibt sie eben jung, bringt ihre Rente unters Volk und hat dabei die immer ein breites Lächeln im Gesicht. Sie sagt, sie hätte im Krieg ihren Bruder verloren, an dem sie sehr hing. Und sie ist sauer, dass sie diese offene Rechnung nicht mit körperlicher Gewalt ihrerseits bei den Verantwortlichen begleichen kann. Wenn ihre Augen dabei wütend funkeln, bin ich froh, dass ich selbst mit ihr keine Rechnung offen habe. 94 Jahre hin Rollator her, die Dame hat noch jede Menge Feuer. Viele Menschen sind schon mit Mitte dreißig älter als Frau A. Sie sagt, sie ist fit und sollte sie mal dement werden, dann klebt sie sich Glitzeraufkleber auf den Rollator. Dann ist sie eben die etwas eigenartige Frau mit dem Glamour-Touch. Aber das hat auch noch Zeit. Und dann geht sie federnden Schrittes in den Tengelmann und kauft sich neuen Nagellack. . Wenn mancher im Erwachsenenalter bloß einen Hauch dieser Frau hätte, dann wäre die Welt ein bisschen bunter. Und sie hätte ordentlich Glitzer an entscheidenden Stellen.


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