298. Akt
Ich
besuche eine wahrhaft alte Freundin bei uns im Pflegeheim und begegne
auf dem Weg Frau A.
Eine
alte Dame. Eigentlich. Aber genau genommen eines der schärfsten
Geschosse, die ich kenne. 94 Jahre alt und trotz der vielen Jahre
immer noch geschmeidig unterwegs. Rollkragenpullover zur
Schiebermütze. Cordrock zu ellbogenlangen Handschuhen. Jeden Tag
läuft sie ihre Runden und wenn man sie auf ihre tolle Erscheinung
anspricht, dann sagt sie, dass sie noch viel Zeit hätte zum alt
werden. Und bis dahin bleibt sie eben jung, bringt ihre Rente unters
Volk und hat dabei die immer ein breites Lächeln im Gesicht. Sie
sagt, sie hätte im Krieg ihren Bruder verloren, an dem sie sehr
hing. Und sie ist sauer, dass sie diese offene Rechnung nicht mit
körperlicher Gewalt ihrerseits bei den Verantwortlichen begleichen
kann. Wenn ihre Augen dabei wütend funkeln, bin ich froh, dass ich
selbst mit ihr keine Rechnung offen habe. 94 Jahre hin Rollator her,
die Dame hat noch jede Menge Feuer. Viele Menschen sind schon mit
Mitte dreißig älter als Frau A. Sie sagt, sie ist fit und sollte sie mal
dement werden, dann klebt sie sich Glitzeraufkleber auf den Rollator.
Dann ist sie eben die etwas eigenartige Frau mit dem Glamour-Touch.
Aber das hat auch noch Zeit. Und dann geht sie federnden Schrittes in
den Tengelmann und kauft sich neuen Nagellack. . Wenn mancher im
Erwachsenenalter bloß einen Hauch dieser Frau hätte, dann wäre die
Welt ein bisschen bunter. Und sie hätte ordentlich Glitzer an
entscheidenden Stellen.
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